Philipp Sands; Rückkehr nach Lemberg

In einem Interview bekannte Philipp Sands, dass es bei der Arbeit an „Rückkehr nach Lemberg“ manchen Moment der Verzweiflung gab und er phasenweise überlegte, vielleicht doch lieber zwei Bücher daraus zu machen. Hergegeben hätte der Stoff es allemal, aber dass der Autor bei dem Konzept geblieben ist, seine eigene Familiengeschichte zu verknüpfen mit dem Schicksal zweier Männer, welche die Nürnberger Prozesse und damit langfristig auch die Menschenrechts-Sprechung maßgeblich beeinflussten, gibt dem Buch erst seine außergewöhnliche Dimension.

Eher zufällig stößt der Autor und britische Anwalt für Menschenrechte, Philipp Sands, bei einer Reise auf die Tatsache, dass seine jüdischen Großeltern mütterlicherseits aus demselben Ort in Galizien (in der heutigen Ukraine) stammen, wie Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin, jene beiden Männer, die in der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse, als das moderne Völkerrecht quasi erst einmal erfunden werden musste, darum stritten, ob es hier „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder „Genozid“ zu ahnden galt. Dass die juristische Betrachtung dieser Kernfrage, die Sands in seinem Buch durchaus betreibt, in keinem Moment trocken oder gar langweilig wird, liegt zum einen daran, dass er die Persönlichkeiten beider Männer anhand sorgfältigster Recherchen äußerst lebendig werden lässt. Zum anderen gibt die parallel erzählte Geschichte seiner Großeltern dem Ganzen die emotionale Spannung, die den Leser bei der Stange hält.

Wie in so vielen Familien von Holocaust-Überlebenden wurde auch in Sands Familie über das dunkelste Kapitel der eigenen Geschichte nicht gesprochen. Wenn er als Kind bei seinen Großeltern in Paris war, spürte er immer nur eine große Ernsthaftigkeit und Traurigkeit, die er sich aber nicht erklären konnte. So wie Sands die Wahrheit mühsam Stück für Stück aufspüren musste, lässt er den Leser wie in einer Detektivgeschichte an seiner persönlichen Aufarbeitung teilhaben. Dies ist nicht nur spannend, sondern verdeutlicht anhand der konkreten Schicksale auch, worum es in der juristischen Auseinandersetzung zwischen Lauterpacht und Lemkin im Kern ging: dem Verbrechen am einzelnen Individuum und dem an einer ganzen Bevölkerungsgruppe, wobei zur damaligen Zeit weder die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ noch der „Genozid“ als Begriffe der Rechtsprechung galten.

Wie die Verbrecher zum Teil davonkamen oder es zumindest versuchten und welche internationalen Netzwerke ihnen dabei halfen, ist Gegenstand von Sands jüngstem Buch „Die Rattenlinie“. Darin erzählt er die Geschichte von Otto Wächter, der von 1942 bis 1944 Gouverneur von Galizien war und nach dem Krieg über die sogenannte „Rattenlinie“ von Italien aus nach Argentinien fliehen wollte, dann aber 1949 in Rom unter etwas rätselhaften Umständen starb. Auch in diesem Buch lässt Sands den Leser an seiner detektivischen Recherchearbeit teilhaben, allerdings fehlt der Geschichte sowohl die persönliche als auch die übergeordnete juristische Ebene, deren Kombination „Rückkehr nach Lemberg“ zu so einer faszinierenden und erkenntnisreichen Lektüre macht.

(nil)

FISCHER Taschenbuch, 592 Seiten, ISBN: 978-3-596-29888-4